Projektleitung • Konzept in Zusammenarbeit mit Marlis Spielmann • Grafische Gestaltung • Bildbearbeitung • Textbeitrag • Lektorat
Marlis Spielmann porträtiert zwischenmenschliche Situationen und Gefühle genauso wie gesellschaftliche Verhältnisse. Neben Sticken, Nähen und Malen nutzt sie vor allem den Scherenschnitt, um in formal harmonischen oder ornamentalen Anordnungen Fragestellungen von gesellschaftlicher Relevanz zu verhandeln.
Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung ÜberSchneidungen – Drei Positionen zur Schnittkunst. Mit Marlis Spielmann, Nesa Gschwend und Katharina Henking, 28. September bis 30. November 2014, museumbickel, Walenstadt.
Tanzschritte und scharfe Schnitte
Textbeitrag von Judith Annaheim
Leicht, fröhlich und verspielt kommt die Kunst Marlis Spielmanns daher, doch der zweite Blick offenbart ein tieferes Anliegen. Insbesondere die Scherenschnitt-Arbeiten mit ihrem ornamentalen Charakter wirken in der Spannung zwischen vordergründiger Ästhetik und komplexen Inhalten doppelbödig. Durch die axialsymmetrische Faltung entstehen kreisförmige Anordnungen, sodass die Figuren einen Reigen bilden. In dieser harmonischen Konstellation können, vorerst unverdächtig, Probleme oder Fragestellungen von gesellschaftlicher Relevanz verhandelt werden.
Das Handwerk des Scherenschnitts lernte Marlis Spielmann zwar bei professionellen Scherenschnittkünstlerinnen. Die dieser Technik so sehr anhaftende Perfektion interessierte sie jedoch nicht; ebenso wenig die traditionsbehafteten Sujets wie Bauern, Kühe, Bäume oder Blumen. Die Künstlerin bearbeitet mit Schere und Papier ihr eigenes Repertoire an Themen. Dafür verwendet sie nicht nur eigenwillige Formate, sondern verpasst dem Papier zusätzlich eine farbige Bemalung – undenkbar in der herkömmlichen Scherenschnittkultur.
Die volkstümliche Ausstrahlung des Scherenschnitts nutzt Marlis Spielmann unter anderem für eine Auseinandersetzung mit dem Thema der erotischen Freiheit von Frauen, wobei die kreisförmige Vervielfältigung der Figur den kollektiven Charakter betont. Die Farbflächen haben dabei die doppelte Funktion, einerseits lockere Rhythmen und Muster zu schaffen und andererseits die «blinden» Formen des Papiers mit Ausdruck zu füllen: verhüllte und sich enthüllende Frauenfiguren, entfesselte und solche in Fesseln, Frauen in Schleiern, die hier für verborgene Sehnsüchte stehen, vermitteln ihre Botschaft. Der geometrischen, regelmässigen Struktur steht das chaotische Ausbrechen aus Einschränkungen gegenüber.
Inspiration für ihre Arbeit bezieht Marlis Spielmann aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Begegnungen im Alltag dienen als Projektionsfläche zwischen Beobachtung und Phantasie. Selbst wenn es sich um Unbekannte handelt, ist es der Bezug zu realen Personen, aus dem die Arbeiten entspringen. Die Charaktere ihrer Nachbarn beispielsweise hat Marlis Spielmann in gestickten Porträts festgehalten – allerdings so, wie sie sich diese als Kinder vorstellt. Das Sticken, eine Technik, die in ihrer Kindheit mit Pflicht verbunden war, wird zum Medium einer mit Witz und Leichtigkeit erzählten Beobachtung. Entsprechend einer flüchtigen Ahnung erscheinen die Gesichter als zarte, manchmal kaum vom Hintergrund zu unterscheidende Umrisse.
Die Figurenkonstellationen in Marlis Spielmanns gestickten Arbeiten thematisieren die Einsamkeit der Menschen in einer Gesellschaft von allein Lebenden; und entsprechend die Sehnsucht nach Liebe und Berührung. Ebenso erzählen sie von der Beziehung der Menschen zu den Tieren, die oft absurde Züge annimmt im Versuch, zwischenmenschliche Nähe zu ersetzen.
Fiktive Lebenssituationen zeichnet Marlis Spielmann auch auf weisse Putzschwämme. Durch ihre Leichtigkeit sind die Schwämme das Notizbuch auf Reisen, das Eindrücke, Reaktionen und Mutmassungen über gesehene Menschen festhält.
Dabei ist das Hinweisen auf Disharmonien nicht das zentrale Anliegen. Die gezeichneten Botschaften fordern auf, gewichtigen individuellen und gesellschaftlichen Themen spielerisch oder – wie die Scherenschnitte es vormachen – tänzerisch zu begegnen.