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Eva Gallizzi: Holz Druck Stock, Hirmer Verlag

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Monografie über das Lebenswerk der Zürcher Holzschnittkünstlerin Eva Gallizzi

2023, Hirmer Verlag, München

Projektleitung • Konzept in Zusammenarbeit mit Eva Gallizzi und dem Hirmer Verlag • Grafische Gestaltung • Reproduktionen und Bildbearbeitung • Textbeitrag • Buchpräsentation und Ausstellung im Kabinett Visarte Zürich

Das Holz redet mit

Text von Judith Annaheim

»Man kann nur vorwärts, nicht rückwärts.« In diesen kurzen Worten liegt viel von Eva Gallizzis Faszination für den Holzschnitt. Das Risiko, das mit dieser Technik einhergeht, liegt ihr. Was weg ist, ist weg. Plastisches Holz zum Ausbessern ist nichts für sie.

Seit gut dreissig Jahren geht Eva Gallizzi mit dem Holzschnitt »vorwärts«. Sie hat damit das Medium gefunden, das ihr erlaubt, sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Bis heute hat sie das Gefühl, dass sie noch nicht alles gemacht hat, was möglich ist. Beim Betrachten eines Holzdrucks des Zürcher Künstlers Peter Stiefel weist sie darauf hin, wie viel man allein mit Strukturen herausholen kann, auch wenn man mit einem einzigen Farbton arbeitet.

Minimale Veränderungen am Druckstock lassen auf einmal Einzelheiten hervortreten oder Tiefenwirkung entstehen. Dass diese Wirkungen nicht ganz vorhersehbar sind, ist genau das, was Eva Gallizzi gefällt. Wiederholt kommt sie darauf zu sprechen, dass der Holzschnitt unendliche Möglichkeiten berge, die sie immer wieder überraschen. Früher hat sie viel gemalt und für einige Zeit existierten Malerei und Holzschnitt parallel in ihrem Werk. Die zwei so unterschiedlichen Medien waren Verlockung und Zwiespalt zugleich, wenn es um die Umsetzung eines Sujets ging. Doch Eva Gallizzi entschied sich bald, ihren Weg allein mit dem Holzschnitt fortzusetzen und ganz in dessen Potenzial einzutauchen.

Im Dialog mit dem Holz
Im Gegensatz zu vielen anderen Holzschnittkünstlern, die Spanplatten oder MDF mit glatter Oberfläche bevorzugen, arbeitet Eva Gallizzi mit Vollholz. Dieses wird zuvor drei Jahre gelagert und doch verzieht es sich immer. Aber das ist in Ordnung. Überhaupt will sie dem Holz nicht ein Konzept aufzwingen, sondern respektiert die Eigenheiten eines bestimmten Werkstücks. Nur zum Teil zeichnet sie Umrisse auf dem Holz vor, oft benutzt sie eine Skizze als Vorlage und greift direkt zum Stechbeitel.

»Es macht eben Spass«, sagt sie, während sie das Werkzeug in flinken Bewegungen über das Holz führt, als sei es eine Zeichnung. »Viele meinen, es brauche Kraft, aber das stimmt gar nicht.« Bei weichem Holz genüge bereits ein Bleistift, um eine Vertiefung zu erzeugen. Dennoch ist diese Kunstform eine sehr körperliche Arbeit, und auf den wenigen Quadratmetern ihres Ateliers ist Eva Gallizzi immer in Bewegung. Den zentralen Arbeitstisch hat ihr Mann René für sie massgeschreinert, samt ausgeklügelten Details, die man nur aus der praktischen Arbeit verstehen kann. Das Atelier ist ein Raum mit Dachschräge im dritten Stock des alten Hauses, in dem der Architekt René Gallizzi – und mit ihm die ganze Familie – viel selbst gebaut und gewerkt hat. In der Küche steht ein alter Holzherd, auf jedem Stock verbreitet ein Holzofen eine Wärme, die man riecht. Der Gemüsegarten vor dem Haus trägt ein weiteres Stück zur Selbstversorgung bei. Die Arbeit mit den Händen ist überall sichtbar und bildet eine natürliche Verbindung zwischen Leben und Beruf. Dass Eva Gallizzi ihre Werkstatt zuhause einrichten konnte, war entscheidend, denn unter diesem Dach sind auch drei Kinder gross geworden.

Austausch in Buchform
Umso wichtiger für ihre Inspiration waren Reisen, aber auch die Aufenthalte in Paris. Die Atelierstipendien der Visarte (Berufsverband der visuell schaffenden Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz) – jeweils 2005, 2006, 2007 und 2010 – ermöglichten ihr insgesamt zehn Monate in der Cité internationale des arts. Dort konnte sie sich ganz der Kunst widmen und mit anderen Kunstschaffenden austauschen. Von langfristiger Bedeutung war die Begegnung mit der Verlegerin der Editions Transignum, die 2005 zu ihr ins Atelier kam. Wanda Mihuleac vermittelt zwischen schreibenden und bildenden Kunstschaffenden aus verschiedenen Ländern und gibt Gemeinschaftswerke heraus. Aus diesen Kooperationen entstehen die handgebundenen Bücher, die Eva Gallizzi in Kleinauflagen von bis zu 12 Exemplaren gestaltet und herstellt. Darin stehen sich Texte, meist zweisprachig, und Drucke gegenüber. In diesen Buchobjekten arbeitet sie allerdings mit Linolschnitt und einem eher zeichnerischen Bildcharakter. Für ihre verbindende und vermittelnde Arbeit wurde Wanda Mihuleac bereits mehrfach von der Stadt Paris gewürdigt.

Erfahrungsschätze
Besonders prägend waren die zwei längeren Reisen, die Eva und René Gallizzi unternahmen, bevor ihre Kinder geboren wurden. 1970 waren sie sieben Monate in Europa unterwegs und folgten den Kulturdenkmälern von Stonehenge bis zu den Trulli in Apulien, von der Alhambra bis nach Olympia. Die zweite Reise durch Nordafrika und den Nahen Osten war abenteuerlich. In Tunesien gingen sie allein in die Wüste, ausgerüstet bloss mit der Wegskizze eines Einheimischen, um die Felszeichnungen von Djelfa zu sehen. 1965 in Afghanistan bestaunten sie Denkmäler, die heute nicht mehr existieren. Auf eigene Faust zu reisen, war ihnen wichtig. Sie waren mit einem ausgebauten VW-Bus unterwegs, mussten sich alles selbst erarbeiten und setzten sich dabei nicht wenigen Gefahren aus. Risiko also auch hier. Doch von diesen Reisen zehre sie noch heute, sagt Eva Gallizzi. Ihre Reiseskizzen sind für sie das, was für andere die Fotosammlung ist. Wo immer sie unterwegs ist, hat sie ein Buch zum Zeichnen dabei, auch im Alltag. Viele ihrer Holzschnitte basieren auf diesen Skizzen. Zur Kamera greift sie eher selten. Wenn etwas sie fasziniert, muss sie es in einem der vielen Skizzenbücher festhalten, die sie ebenfalls selbst bindet.

Die Sujets sind entsprechend immer konkret. Gesehenes und Erlebtes liegt ihnen zugrunde. Zu Beginn waren Eva Gallizzis Arbeiten mehrheitlich figurativ. Das präzise Abbilden hatte sie durchaus gelernt; der Unterricht bei dem wissenschaftlichen Zeichner Bernhard Struchen war eine klassische Schulung im Sehen und zeichnerischen Umsetzen. Nachdem sie für den Holzschnitt Feuer gefangen hatte, lernte und assistierte sie an der Zürcher Hochschule der Künste bei Claudia Schuh, Tochter des Fotografen und Grafikers Gotthard Schuh.

Dem Rhythmus auf der Spur
Zu ihren ersten Holzschnitten gehören die Körperfragmente, die durch Gruppierung mehrerer Drucke auf dem Blatt zum Muster werden. Auch viele Porträts von Menschen aus ihrer Umgebung sind in dieser Zeit entstanden. In den 1990er-Jahren war sie regelmässig bei Jazzkonzerten anzutreffen und hatte dort jeweils ihren besonderen Platz, um die Szene zu zeichnen. Sie porträtierte die Musiker und Sängerinnen ebenso wie das tanzende Publikum. Von den anschliessend geschaffenen Holzdrucken hat sie viele verkauft.

Tanz und Musik waren ein wichtiges Thema. Doch unabhängig vom Inhalt zeigt sich bereits in den frühen Werken Eva Gallizzis Fähigkeit, Bewegung darzustellen. Schliesslich verfügt sie sowohl über ein Segel- als auch ein Tauchbrevet, und als Besitzerin einer Jolle ist sie mit dem bewegten Element vertraut. Matthias Mansers Segelreisebuch beeindruckte sie mit einer Holzschnittreise über sämtliche Buchseiten, die sich zu einer Bahn ausfalten lassen.

In Bewegung
Der verbreiteten Meinung, Holzschnitt habe etwas Starres, setzt Eva Gallizzi verschiedene Stilmittel entgegen. Indem sie Variationen des Inhalts nebeneinander auf dasselbe Blatt druckt, beginnen die Formen zu tanzen. Spannungsvolle Ausschnitte, Diagonalen, Kontraste oder Transparenzen setzt sie mutig ein. Das Rhythmische, als Grundprinzip des Holzschnitts in der Technik angelegt, nutzt sie in grosser formaler Vielfalt. Die belebte Fläche interessiert sie mehr als sauber abgegrenzte Linienzeichnungen. Mit dem sogenannten Schwarzlinienschnitt, bei dem nur noch die Linie stehenbleibt, hat sie zwar experimentiert, viel eher jedoch überlagert sie Umrisslinien mit rhythmisch aufgelockerten Flächen und Schraffuren. So entsteht ein vielschichtiges Bild, etwa bei dem Projekt Douro / Vila Nova de Foz Côa, in dem sie sich im Rahmen des UNESCO Welterbes mit den Felsritzungen in Portugal befasste.

Nicht zuletzt ist es auch ihr Temperament, das Bewegung ins Bild bringt: Ihre Arbeit entwickelt sich nicht aus Konzepten, sondern aus der Lust am Machen. Schon als Kind in der Schule erging es ihr so: Wenn man zu lange denken muss, sind die Ideen verflogen und es wird langweilig! Für das Medium Holzschnitt bedeutet dies, dass das Schneiden nicht bloss Ausführung ist, sondern den grössten Teil der Arbeit auf sich konzentriert. Die Skizzen sind Inspiration und Erinnerung, aber niemals eine ins Detail ausgearbeitete Vorlage.

Den ganzen Prozess in der Hand
Der Dialog mit dem Material ist im Werk von Eva Gallizzi zentral. Es beginnt damit, dass sie in Massivholzplatten schneidet und somit den Charakter des Holzes auf das Sujet abstimmt. Für Mehrfarbendrucke arbeitet sie grundsätzlich mit mehreren Platten, also jeweils einer pro Farbe. Die natürliche Form eines Holzstücks wird einbezogen, bewusst kommen auch asymmetrische Platten oder solche mit Baumrinde zum Einsatz. Die Bildbeschreibungen der ersten Jahre bezeugen die Bedeutung dieser Wahl: sie lauten beispielsweise »Lindenholz mit wildem Rand«.

Besonders wichtig ist es der Künstlerin, dass sie immer selbst im eigenen Atelier druckt. Das ist eher ungewöhnlich und führt zu einem ganz anderen Prozess, als wenn der Druckstock einer externen Werkstatt übergeben wird. Das Drucken gehört bei ihr zur Bildfindung. Relativ früh in der Entstehung eines Werkes macht sie einen ersten Abzug, der ihr ermöglicht, die ursprüngliche Idee direkt in ihrem Medium zu überprüfen und dessen Ausdrucksmöglichkeiten auszuschöpfen.

Beim Drucken von Hand oder dem Reiberdruck ist auch die Übertragung auf das Papier ein Element der Gestaltung, indem mit dem Druck und den Bewegungen der Hand die Farbintensität beeinflusst wird. Eva Gallizzi verwendet Offsetfarbe auf Ölbasis in den Grundfarben Rot, Blau, Gelb und Schwarz. Auch Papier- und Holzart setzt sie bewusst für die Wirkung ein. Stark saugende, weiche Hölzer hinterlassen eine dünnere Farbschicht auf dem Papier. Zudem sind die massiven Holzstücke oft nicht ganz ebenmässig, sodass eine wolkige, atmosphärische Farbigkeit entstehen kann.

Angesichts dieser Arbeitsweise wird klar, dass eine lange konzeptuelle Vorbereitung gar keinen Sinn ergäbe. In den Worten der Künstlerin: Das Holz redet eben immer auch mit! Es geht darum, mit dem Holz zusammen einen Weg zu finden. Wenn nichts daraus wird, wird abgehobelt.

Als Beispiel erwähnt Eva Gallizzi, wie zur Zeit der Expressionisten eine bestimmte Ästhetik im Holzdruck vorherrschte, die gerade mit den Ausreissern in der Druckplatte arbeitete. Kirchner nutzte die Tatsache aus, dass Hölzer wie Tanne oder Pappel leicht splittern, da sie nur in eine Richtung geschnitten werden können. Da lassen sich keine Kurven beschreiben, sodass zackige, rohe Formen diese Werke prägen. Im weichen Lindenholz hingegen schneidet Eva Gallizzi sowohl horizontale als auch vertikale Linien. Nochmal anders verhält sich Birnenholz: Es ist sehr hart und gleichmässig, was präzise, feine Schnitte ermöglicht, und zwar in beide Richtungen.

Das Werkzeug als Sujet
Beim Handdruck kommt zuerst der japanische Baren (Handabreiber) und dann eine weichere Lederrolle zum Einsatz, um das Papier abzureiben. Jedes dieser Werkzeuge hat seine spezifische Wirkung. Der Baren ist eine handgrosse Scheibe mit einem Griff, die in ihrer klassischen Form aus vielen Papierschichten besteht, überzogen mit Bambusrinde. Durch die sorgfältige Herstellung über Wochen hinweg, Schicht um Schicht, ist er sehr stark und dennoch flexibel. Über dieses ebenso einfache wie ausgeklügelte Werkzeug wurden auf Japanisch ganze Bücher geschrieben.

Werkzeuge und technische Objekte sind interessante Sujets für Eva Gallizzi. Nägel, Schrauben und Schläuche zeigen in der Serie Baustellen-Lyrismus (2017) ihre Schönheit, auf die Baustellen im Leben verweisend, die zwar anstrengend, aber eben auch spannend sind. Aus einem Besuch im Norwegischen Erdölmuseum in Stavanger sind es die Bohrköpfe, die den Weg auf den Druckstock gefunden haben (Gegenwart/Stavanger, 2019). Irgendwo zwischen Seeigeln, Kakteen, Korallen oder mittelalterlichen Waffen liegt ihre Ästhetik, die gleichermassen fasziniert wie bedroht. Das Objekt verkörpert die kontroverse Auseinandersetzung, die ebenfalls in Eva Gallizzis Arbeit einfliesst.

Das grösste Eisenwasserrad Europas
Es hat einen Durchmesser von 8,6 Metern, ist 30 Tonnen schwer und mit 72 Schaufeln bestückt: das Wasserrad Neumühle-Wollerau nicht weit von Zürich. Die Geschichte der Mühle an diesem Ort reicht bis ins Spätmittelalter zurück; das heute bestehende Rad wurde 1854 erbaut und war bis in die 1970er-Jahre eine Getreidemühle. Beim Wandern zufällig entdeckt, überraschte das Wasserrad Eva Gallizzi in der ganzen Pracht und Würde seiner langen Geschichte. Von aussen ahnt niemand, was sich in dem Gebäude verbirgt. Sogar viele Leute aus dem Dorf haben keine Kenntnis seiner Existenz, was die Künstlerin umso mehr herausforderte, es auf ihre Art ans Tageslicht zu heben. Ihre Serie Europas grösstes Wasserrad in Eisenkonstruktion (2017) zeigt das Rad nie als Ganzes, sondern fokussiert auf die Schönheit der Details, indem Eva Gallizzi den verschiedenen Aspekten je ein eigenes Blatt widmet. Von seiner unversehrten Perfektion ebenso fasziniert wie von der vermoosten und rostigen Oberfläche, hat sie jedes Thema in einer eigenen Farbe umgesetzt, die die Strukturen und Muster zur Geltung bringt. Im Verhältnis zu ihrem enormen Durchmesser wirkt die Eisenkonstruktion erstaunlich schlank. Die Leichtigkeit und Eleganz der Erscheinung trotz materieller Schwere zu vermitteln, war Eva Gallizzi besonders wichtig. Durch das Zusammensetzen zweier Druckplatten erhielt sie das extreme Hochformat von 140 auf 43 Zentimeter.

Das konkrete Auge
An diesem Werk zeigt sich Eva Gallizzis Arbeitsweise virtuos: ein konkretes Objekt in eine Bildsprache zu übersetzen, die die zentrale Botschaft hinter der Erscheinung erzählt. Die vollendete Mechanik des Objekts verbindet sich mit der Schönheit des Wandels, die die Künstlerin genauso wahrnimmt. Man erkennt in diesen Holzschnitten Zahnräder, geschwungene Teile, Stangen, Schaufeln, Bolzen: Das Sujet liefert die Grundzüge, und die weitere Gestaltung nimmt während des Schneidens ein Eigenleben an. Bei vielen Arbeiten ist man deshalb versucht, sie unter dem Begriff »abstrakt« zu fassen. Zutreffender ist jedoch die Beschreibung, nach der Eva Gallizzi das darstellt, was sie sieht, nämlich helle und dunkle Flächen, Proportionen, Strukturen, Atmosphäre und Transparenz.

Es sind oft Stimmungen und Lichtwirkungen, die sich an einem Gegenstand abspielen, sei es eine Wasseroberfläche im Morgen-, Mittags- oder Nachtlicht (Tümpel, 2016), seien es Fragmente eines Ortes, die durch Regen und Nebel sichtbar werden. So ist Nebel am Monte Generoso (2018) keineswegs die Abstraktion des Sujets, sondern spiegelt die konkrete und persönliche Erfahrung des Moments, dessen Bewegtheit in vier Variationen wiedergegeben wird. Diese Arbeit überrascht auch mit ihren Formen und Schattierungen. Im gesamten Werk zeigt sich ein breites Vokabular von Schnittmöglichkeiten, die sich Eva Gallizzi mit Begeisterung immer weiter erschliesst.

Ein Thema als Bildpaar umzusetzen, entspricht der Erfahrung, dass verschiedene Perspektiven und Realitäten gleichzeitig existieren. Die vier Doppelbilder der Serie Trans-Alpin (2012) erzählen von Eva Gallizzis Streifzug durch Wien. Sie kombinieren bekannte Ansichten mit unscheinbaren Eindrücken aus der Stadt, ihren persönlichen visuellen Fundstücken. Jeweils ein schwarz-weisser und ein farbiger Druck teilen sich das Blatt. Völlig unterschiedliche Inhalte, architektonische und organische Formen kontrastieren miteinander, sind jedoch gleichzeitig durch ihre Strukturen miteinander im Gespräch. Das spannungsvolle, manchmal verwirrende Nebeneinander, die inspirierende Vielfalt und Lebendigkeit einer Grossstadt sind darin lustvoll eingefangen.

Im Fluss der eigenen Handschrift
In Eva Gallizzis Werk ist eine Entwicklung zu immer freieren, aus dem Prozess entstehenden Gestaltungen ablesbar. Viele Wettbewerbsbeteiligungen waren erfolgreich – die Ablehnungen nahm sie als Herausforderung, sich selbst treu zu bleiben und weiterzumachen, ohne die Vorstellungen von anderen zu erfüllen. Der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung zu vertrauen, den Reichtum des Mediums Holzschnitt auszuschöpfen und nicht zuletzt der Freude daran zu folgen, macht die wachsende Eigenständigkeit ihres Werkes aus.

Als Inspirationsquelle nennt Eva Gallizzi unter anderen das chinesische Künstlerduo Zhou Brothers, die den Holzschnitt wild interpretierten und Grenzen sprengten. Unterstützend war für sie auch der Schweizer Peter Stiefel, den sie für seine künstlerische Ehrlichkeit schätzt. Er war nicht nur Vorbild, sondern auch eine Art Pate für sie bei Xylon, denn als Frau war es auch 2003 noch nicht ganz einfach, der Internationalen Vereinigung der Holzschneider beizutreten.

Doch das Ehrlichste, was sie in Bezug auf Kunst erlebte, kam von einer Zürcher Sammlerin, die eines Tages anrief und von 2014 bis 2020 ein beständiges Interesse an ihrer Arbeit zeigte. Maria Juchli sammelte von ganz verschiedenen Kunstschaffenden, aber ausschliesslich Holzschnitte. Sie wollte alle neuen Arbeiten sehen, nahm sich viel Zeit zum Schauen und äusserte sich jeweils sehr direkt dazu. Der warmherzige Austausch, zu dem lange Gespräche und gemeinsame Museumsbesuche gehörten, stärkte Eva Gallizzi in ihrer künstlerischen Handschrift. Maria Juchli hat ihre gesamte Sammlung digitalisiert, bevor sie 2020 gestorben ist.

Die Reise erneuert sich
Aus dem Jahr 2021 stammt eine Arbeit von Eva Gallizzi, die in verschiedener Hinsicht für die Eigenständigkeit des Ausdrucks stehen kann. Spaziergang ist ein Quartett von Holzschnitten, die durch Sonne, Schatten und Einsamkeit entstanden sind. Sie erzählen von der Erfahrung, im nächsten Umkreis allein unterwegs zu sein. Der Schatten spaziert mit zeigt gnomenartige Figuren zwischen Menschlichem und Pflanzlichem. Das Schattenhafte der skurrilen Figuren strahlt etwas von der Einsamkeit und Bedrohlichkeit der Zeit aus, während in ihrer Gestik ein surrealer oder gar humorvoller Unterton mitschwingt. Der Spaziergang ist begleitet von der Faszination, Vertrautes neu zu entdecken. Dazu gehören nicht nur die Schatten der Spazierenden selbst und von Bäumen, sondern auch Der Entspannungsort unter dem Sonnenschirm. In der Zusammenschau der vier Themen auf einem Blatt offenbaren sich die ganze Vielfalt der Muster, mit denen die Mehrfarbendrucke in Blautönen strukturiert sind, und ebenso die eigenwilligen Formen, die als Inseln dazwischen stehenbleiben.

Eva Gallizzis Werke entstehen in Kleinstauflagen von drei bis sechs Abzügen. Der Fokus liegt auf dem Handwerk und dem achtsamen Umgang mit dem Material. Nach dem definitiven Druck wird die Platte abgehobelt und weiterverwendet – eine neue Reise beginnt.